Die jüngste Filmretrospektive zur Schweizer Dokumentarfilmästhetik, die ich vor Kurzem besucht habe, hat mir mehr gezeigt als nur eine Abfolge sehenswerten Materials: Sie bot ein Panorama von Arbeitsweisen, eine Geschichte von Haltungen und eine ganze Palette technischer wie ethischer Entscheidungen, die zusammen eine spezifische Form des dokumentarischen Sehens in der Schweiz prägen. Ich möchte hier einige Beobachtungen teilen — persönlich, beobachtend und mit dem Versuch, Antworten auf Fragen zu geben, die mir immer wieder gestellt werden: Was macht die «schweizerische» Dokumentarästhetik aus? Wie begegnen Filmemacher:innen den Protagonist:innen? Und welche Rolle spielen Bildsprache, Sounddesign und Kontextualisierung?
Mehr als Inhalt: die Form als Haltung
Was mir sofort auffiel, war der hohe Stellenwert der Form. In den gezeigten Arbeiten — von etablierten Regisseur:innen wie Christian Frei bis zu jüngeren Stimmen — ist die Art, wie etwas gezeigt wird, nie Nebensache. Die Bildkompositionen sind oft sorgfältig durchkomponiert, die Kamera sucht stille Momente, sie verweilt. Diese Formverliebtheit ist aber nicht selbstzwecklich; sie ist eine Art respektvolle Distanz, die dem dokumentierten Gegenüber einen Raum lässt, ohne ihn zu dramatisieren.
Das führt zu einem ersten Charakterzug: Die Schweizer Dokumentarästhetik tendiert zu einer beobachtenden, manchmal fast meditativen Ästhetik. Das bedeutet nicht, dass Filme passiv bleiben — im Gegenteil: Viele der Werke sind politisch engagiert, doch die Überzeugung wird über Beobachtung und Verdichtung transportiert, nicht über direkte Appelle.
Sound als Erzählerin
Ein Aspekt, der in der Retrospektive besonders deutlich wurde, ist die Bedeutung des Tons. Schweizer Dokumentarfilme arbeiten oft mit einem sorgsam konstruierten Sounddesign: natürliche Geräusche werden isoliert, atmosphärische Klanglandschaften aufgebaut, Musik tritt zurückhaltend, punktuell oder als strukturierendes Element auf. Bei Christian Frei etwa wurde mir noch einmal bewusst, wie der Ton die Bilder inhaltlich auflädt — das Rascheln, Atmen, die Stille eines Raums sagen oft mehr als ein Interview.
Gerade für Zuschauer:innen, die Dokumentarfilme primär visuell einordnen, ist das ein wichtiger Hinweis: Hört hin. Der Sound ist kein Beiwerk, sondern Teil der Erzählinstanz.
Ethik und Nähe: Beobachten ohne Ausbeutung
Ein zentrales Thema der Diskussionen nach den Screenings war die Frage nach der ethischen Verantwortung. Wie weit darf Kamera gehen? Wie viel Nähe ist zulässig? Die gezeigten Filme reflektierten dieses Spannungsfeld offen. Viele Filmemacher:innen nehmen sich Zeit, Vertrauen zu gewinnen; es gibt Vor- und Nachgespräche, wiederholte Begegnungen und oftmals eine lange Arbeits- und Schnittphase, in der die Ton- und Bildauswahl auf ethische Verträglichkeit geprüft wird.
Mir gefällt, dass in der gezeigten Auswahl Sensibilität sichtbar wurde: Szenen, die voyeuristisch hätten wirken können, wurden so montiert, dass sie die Würde der Betroffenen wahren. Das ist keine blosse Schamhaftigkeit, sondern ein ästhetisches Prinzip: Respekt als Formprinzip.
Lokales und Globales: Schweiz als Perspektive, nicht als Thema
Viele Zuschauer erwarten bei einer Schweizer Retrospektive, dass die Filme vor allem «heimische» Themen behandeln. Tatsächlich sind zahlreiche Filme tief in lokalen Kontexten verwurzelt — ländliche Räume, Industrie, Alpen, Migrant:innenstories — aber die Retrospektive zeigte auch eine Offenheit zum Globalen. Filme wie «More Than Honey» von Markus Imhoof (über Bienen und die ökologische Krise) oder Arbeiten von Christian Frei über globale Konflikte führen vor Augen, dass Schweizer Dokumentarfilm nicht isoliert bleibt, sondern Verbindungen schafft.
Für mich ist das ein wichtiges Ergebnis: Die Schweizer Perspektive ist oft kleinräumig sensibilisiert, auf Details bedacht, ohne dabei den Blick für weltweite Verflechtungen zu verlieren.
Experiment und Tradition: ein produktives Spannungsverhältnis
Die Retrospektive stellte klassische observational documentaries neben experimentellere Arbeiten. Peter Liechti zum Beispiel — dessen Arbeiten ich dort wiederentdeckt habe — bewegt sich häufig an der Grenze von Essayfilm und dokumentarischer Beobachtung; er bricht narrative Erwartungen auf, nutzt Montage und Tonassoziationen, um innere Zustände sichtbar zu machen.
Dieses Nebeneinander von Tradition (langsames Erzählen, grosse Nähe zu Protagonist:innen) und Experiment (freie Montage, multi-mediale Einflechtungen) wirkt auf mich wie eine Stärke: Die Schweizer Szene bleibt heterogen, erlaubt Formalismen ebenso wie erzählerische Klarheit.
Der Blick auf Körper und Performance
Ein Aspekt, der mich persönlich berührt hat — und der vielleicht auch mit der Verbindung zur Kategorie Sport zu tun hat — ist die Darstellung von Körpern und Performance. Mehrere Filme zeigten Menschen bei körperlichen Vollzügen: Handwerker:innen bei der Arbeit, Sportler:innen in Routine, Tänzer:innen in Proben. Diese Szenen wurden nicht als spektakuläre Höhepunkte inszeniert, sondern als Alltag, in dem Techniken, Rituale und körperliche Disziplin sichtbar werden.
Die Kamera respektiert das Timing der Körper; sie zeigt Ermüdung, Wiederholung und Konzentration. Dadurch entsteht ein dokumentarisches Interesse an Performance als Praxis, nicht nur als Event — das hat mich an die dynamische Beziehung von Kultur und Sport denken lassen: Disziplin, Training, Öffentlichkeit und Intimität treffen hier zusammen.
Archiv und Erinnerung: historische Schichten
Ein weiterer verbindender Faden war die Auseinandersetzung mit Archivmaterial. Viele Regisseur:innen nutzen archivische Bilder, Tonbänder, Amateuraufnahmen oder private Homevideos, um Geschichten zu verdichten. Diese Arbeit mit dem Archiv ist nicht nostalgisch; sie ist analytisch und oft kritisch. Die Retrospektive zeigte, wie Archivmaterial die Gegenwart kommentiert und historische Perspektiven herstellt.
Das hat mich wiederholt dazu gebracht, über die Rolle von Erinnerung und Identität nachzudenken: Schweizer Dokumentarfilm arbeitet häufig daran, kollektive Vergessenes sichtbar zu machen — und tut das formal intelligent.
Was nehme ich mit nach Hause?
Ich verlasse die Retrospektive mit mehreren klaren Eindrücken: Erstens, dass die Schweizer Dokumentarästhetik von einer Balance aus Respekt, formaler Präzision und experimenteller Offenheit lebt. Zweitens, dass Sound und Montage gleichberechtigte Erzählinstrumente sind. Drittens, dass Ethik und Ästhetik sich hier nicht ausschließen, sondern gegenseitig bedingen.
Und persönlich: Ich fühle mich eingeladen, beim nächsten Dokumentarfilmbesuch genauer hinzusehen und -zuhören, die feinen Entscheidungen der Regisseur:innen zu suchen und deren Haltung zu hinterfragen. Für alle, die sich für Kino interessieren, heißt das auch: Schaut euch Retrospektiven an. Sie lehren nicht nur Filmgeschichte, sondern schärfen unseren Blick fürs Jetzt.
Wenn Sie möchten, kann ich beim nächsten Mal eine Liste mit empfohlenen Titeln aus der Retrospektive zusammenstellen — inklusive Hinweisen, welche Werke besonders zugänglich sind und welche eher experimentelles Terrain betreten.