Wenn ich ein neues, lokales Theaterstück sehe und nach der Vorstellung meine Notizen sortiere, stelle ich mir immer dieselbe Frage: War das wirklich innovativ — oder hat man mich nur mit Lautstärke, Lichtblitzen und einem überbordenden Bühnenbild beeindruckt? Die Grenze zwischen echter Neuerung und bloßem Effektgerassel ist oft fein. In diesem Text versuche ich, meine persönlichen Kriterien und Beobachtungen zu teilen, die mir helfen, echte Innovation zu erkennen. Diese Werkzeuge nutze ich vor Ort, beim Gespräch mit Künstlerinnen und Künstlern und beim anschließenden Schreiben.
Was meine ich mit "innovativ"?
Für mich bedeutet Innovation im Theater nicht nur: noch nie Dagewesenes zu zeigen. Es geht vielmehr darum, bekannte Mittel so zu kombinieren oder zu verschieben, dass Wahrnehmung, Denken und Gefühl des Publikums herausgefordert werden. Innovation kann formal sein (z. B. neue Erzählstrukturen), technologisch (Einsatz von AR/VR oder Live-Coding), politisch (neue Perspektiven, Partizipation) oder performativ (Veränderung der Körper- bzw. Raumästhetik).
Erste Indizien bei der Aufführung
Wenn ich im Saal sitze, achte ich in den ersten 10–15 Minuten auf ein paar konkrete Signale:
Diese Punkte geben mir schnell einen Eindruck, ob die Inszenierung ein eigenes dramaturgisches Interesse verfolgt oder hauptsächlich Effekte aneinanderreiht.
Drei Fragen, die ich mir nach der Vorstellung stelle
Nach dem letzten Applaus beantworte ich mir drei einfache Fragen, die oft Klarheit bringen:
Typische Fallen: Woran ich erkenne, dass etwas "nur laut" ist
Es gibt Muster, die mir signalisieren: Hier wurde Energie statt Idee eingesetzt.
Gute Signale für echte Innovation
Gleichzeitig achte ich auf Indikatoren, die für eine fruchtbare Innovation sprechen:
Wie ich mit dem Team spreche — fünf Fragen im Interview
Wenn ich die Regie oder die Autorin nach der Vorstellung treffe, frage ich oft:
Die Antworten zeigen mir oft, ob hinter der Inszenierung ein reflektierter Prozess steckt oder eher eine Reihe ästhetischer Entscheidungen ohne Konzept.
Ein kleines Vergleichs-Tableau
| Merkmal | „Nur laut“ | Echte Innovation |
|---|---|---|
| Technik | dominant, dekorativ | integriert, bedeutungserzeugend |
| Erzählstruktur | chaotisch, ziellos | fragmentiert aber kohärent |
| Publikumsbezug | nerve- oder schockorientiert | einladend, herausfordernd |
| Probenprozess | Performance-first, wenig Reflexion | experimentell, dokumentiert |
Praktische Tipps für Zuschauerinnen und Zuschauer
Wenn du nach einer Aufführung unsicher bist, probiere Folgendes:
Beispiele aus meinem Alltag
Ich erinnere mich an ein Stück, das in Zürich lief: opulente Projektionen, ohrenbetäubender Sound, schnelle Schnitte — die Leute standen wiederholt auf und schienen beeindruckt. Doch im Gespräch mit der Regisseurin ging hervor, dass die Technik als Metapher für information overload dienen sollte. Hätte das Stück mehr Raum gelassen, um diese Metapher zu entfalten, wäre der Eindruck nachhaltiger gewesen. In einem anderen Fall wurde eine minimalistische Rauminstallation mit langsamer, präziser Körperarbeit gezeigt — zunächst unscheinbar, später umso wirkmächtiger. Dort war die Zurückhaltung das eigentliche Risiko.
Am Ende suche ich als Kritikerin nicht nur nach Neuheit um der Neuheit willen, sondern nach Sinn. Innovation, die sich nur als Lärm verkauft, ist schnell vergessen. Die Momente, die mir lange nachklingen, sind meist jene, in denen Form und Inhalt in produktive Spannung treten und mein Verständnis von Theater erweitern.