Bei experimentellen Konzerten spielt der Sound nicht nur eine Rolle – er ist oft das Werk selbst. Als Rezensentin, die regelmäßig in Off-Räumen, kleinen Clubs und Festivals unterwegs ist, stelle ich mir deshalb immer wieder dieselben Fragen: Wie beurteile ich Klanggestaltung gerecht, kritisch und zugleich konstruktiv? Wie unterscheide ich ästhetische Entscheidungen von handwerklichen Schwächen? In diesem Text teile ich meine Herangehensweise: Hörstrategien, Kriterien, Fragestellungen für Gespräche mit Künstlerinnen und Künstlern sowie Hinweise, wie man eine Kritik schreibt, die dem Projekt weiterhilft statt es zu verurteilen.
Warum Klangbewertung bei experimenteller Musik anders ist
Bei konventionellen Konzerten lässt sich Klang oft an Normen wie Intonation, Balance und Lautstärke messen. Experimentelle Musik aber arbeitet häufig mit Rauschen, Verzerrung, Mikrostrukturen, räumlicher Auflösung und intentionalen Störungen. Deshalb muss die Bewertung zwei Ebenen unterscheiden: die ästhetische Intention und die technische Umsetzung. Eine Fehlbedienung eines Mischpults kann genauso störend sein wie eine bewusste Entscheidung, digitalen Aliasing hörbar zu lassen – nur ist in letzterem Fall das Problem möglicherweise Teil des Werks.
Grundkriterien, die ich anwende
Ich arbeite mit mehreren parallelen Kriterien, die helfen, Beobachtungen zu ordnen und konkret zu beschreiben:
Praktische Hörstrategien vor Ort
Ich versuche, meinen Hörfokus zu variieren – das hilft, verschiedene Schichten des Sounds zu erfassen:
Wenn möglich, notiere ich Zeitpunkte und Eindrücke – so lassen sich später Aussagen belegen (z. B. „ab Minute 12 setzte eine harte digitale Übersteuerung ein“ statt vage Formulierungen).
Technische Aspekte, die oft sichtbar werden
Auch ohne Ingenieursstudium lohnt es sich, einige technische Parameter zu kennen:
Ein Tipp: Wenn möglich, mit dem Technikteam kurz sprechen. Viele Sound-Engineers erklären bereitwillig, ob ein Effekt beabsichtigt ist (z. B. granulare Synthese, Max/MSP-Patches, modular setups) oder ob es sich um ein Problem handelt.
Wie ich intentionale Entscheidungen erkenne
Intentionalität zeigt sich oft in Mustern: Wenn ein Klangereignis wiederholt, kontrolliert und in Beziehung zu anderen Elementen steht, ist es wahrscheinlich künstlerisch gemeint. Zufälligkeiten hingegen zeichnen sich durch inkonsistente Wiederholungen oder abruptes Abbrechen ohne konzeptionelle Erklärung aus. Künstler wie Pauline Oliveros (Deep Listening) oder Ryoji Ikeda arbeiten bewusst mit Raum, Mikrostrukturen und physikalischen Grenzen des Klangs; bei solchen Positionen ist eine „Störung“ meist Konzept.
Formulierungen, die konstruktiv sind
Wenn ich eine Kritik schreibe, vermeide ich pauschale Urteile und liefere stattdessen beschreibende, prüfbare Aussagen. Beispiele für hilfreiche Formulierungen:
Solche Sätze benennen klar das Problem, setzen es zum künstlerischen Ziel in Beziehung und schlagen – wenn sinnvoll – Verbesserungen vor.
Fragen, die ich Künstlerinnen und Technikteams stelle
Vor oder nach dem Konzert helfe ich mir mit ein paar gezielten Fragen, um besser zu verstehen, was beabsichtigt war:
Antworten auf diese Fragen helfen, ästhetische von technischen Problemen zu unterscheiden und machen die Rezension fairer.
Eine kleine Vergleichstabelle zur Einordnung
| Aspekt | Ästhetisch beabsichtigt | Technisches Problem |
|---|---|---|
| Übersteuerung | gezielt als Distortion/Grain | Unbeabsichtigtes Clipping durch zu hohen Pegel |
| Räumlichkeit | Ambisonics/mehrkanalig geplant | schlechtes Timing zwischen Lautsprechern |
| Rauschen/Glitches | Teil der Textur (glitch aesthetic) | Hardware-Fehler, Kabelproblem |
Zum Schluss: Schreiben, was wirklich gehört wurde
Meine wichtigste Regel ist simpel: Beschreibe genau, was du gehört hast, ordne es ein und frage nach der Intention, bevor du urteilst. Nenne technische Details, wenn sie relevant sind, und bleibe respektvoll gegenüber künstlerischer Risikobereitschaft. Gerade im experimentellen Bereich ist Mut zur Dekonstruktion wichtig — sowohl auf der Bühne als auch in der Kritik. Wenn ein Stück scheitert, kann das genauso aufschlussreich sein wie ein Erfolg, vorausgesetzt, die Kritik macht die Mechanismen dieses Scheiterns sichtbar und bietet Raum für Diskussion.