Bei experimentellen Konzerten spielt der Sound nicht nur eine Rolle – er ist oft das Werk selbst. Als Rezensentin, die regelmäßig in Off-Räumen, kleinen Clubs und Festivals unterwegs ist, stelle ich mir deshalb immer wieder dieselben Fragen: Wie beurteile ich Klanggestaltung gerecht, kritisch und zugleich konstruktiv? Wie unterscheide ich ästhetische Entscheidungen von handwerklichen Schwächen? In diesem Text teile ich meine Herangehensweise: Hörstrategien, Kriterien, Fragestellungen für Gespräche mit Künstlerinnen und Künstlern sowie Hinweise, wie man eine Kritik schreibt, die dem Projekt weiterhilft statt es zu verurteilen.

Warum Klangbewertung bei experimenteller Musik anders ist

Bei konventionellen Konzerten lässt sich Klang oft an Normen wie Intonation, Balance und Lautstärke messen. Experimentelle Musik aber arbeitet häufig mit Rauschen, Verzerrung, Mikrostrukturen, räumlicher Auflösung und intentionalen Störungen. Deshalb muss die Bewertung zwei Ebenen unterscheiden: die ästhetische Intention und die technische Umsetzung. Eine Fehlbedienung eines Mischpults kann genauso störend sein wie eine bewusste Entscheidung, digitalen Aliasing hörbar zu lassen – nur ist in letzterem Fall das Problem möglicherweise Teil des Werks.

Grundkriterien, die ich anwende

Ich arbeite mit mehreren parallelen Kriterien, die helfen, Beobachtungen zu ordnen und konkret zu beschreiben:

  • Intentionalität: Wirkt der Klang, als folge er einer klaren Idee oder ist er zufällig und unkontrolliert?
  • Transparenz vs. Dichte: Lässt sich jedes Element isolieren, oder verschmilzt alles zu einer homogenen Masse? Beides kann künstlerisch sinnvoll sein – wichtig ist, dass die Wahl nachvollziehbar ist.
  • Räumlichkeit und Balance: Wie wird der Raum genutzt? Gibt es eine choreografierte Bewegung des Klangs (z. B. durch Lautsprecher-Arrays, Ambisonics, binaurale Setups) oder bleibt das Feld statisch?
  • Detailtreue und Dynamik: Sind Feinheiten hörbar oder verschluckt die Wiedergabe alles? Wie ist die Arbeit mit Lautstärke und dynamischen Übergängen?
  • Technische Qualität: Stimmt die Klangqualität (Verzerrungen, Übersteuerungen, Rückkopplungen) mit der künstlerischen Absicht überein?
  • Publikumsbezug: Wird der/ die Zuhörer/in bewusst in die Klangführung eingebunden (z. B. durch gezielte Lautstärken, Raumwege) oder bleibt er/sie passiver Empfänger?
  • Praktische Hörstrategien vor Ort

    Ich versuche, meinen Hörfokus zu variieren – das hilft, verschiedene Schichten des Sounds zu erfassen:

  • Makro-Hören: Den Gesamtbogen des Sets verfolgen: Aufbau, Spannungsbogen, Brüche, Wiederholungen.
  • Mikro-Hören: Auf Details achten: Attacken, Transienten, Texturen, Artefakte der Elektronik.
  • Ortswechsel: Im Raum gehen. Viele Klangphänomene erscheinen nur von bestimmten Positionen.
  • Referenzpunkte: Kurz vergleichen: Wie verhält sich der Sound im Verhältnis zur Raumakustik oder zu früheren Auftritten des Künstlers / der Künstlerin?
  • Wenn möglich, notiere ich Zeitpunkte und Eindrücke – so lassen sich später Aussagen belegen (z. B. „ab Minute 12 setzte eine harte digitale Übersteuerung ein“ statt vage Formulierungen).

    Technische Aspekte, die oft sichtbar werden

    Auch ohne Ingenieursstudium lohnt es sich, einige technische Parameter zu kennen:

  • Monitoring und Lautsprechersetup: Kleine Räume erfordern andere Lautsprecherkonzepte als Hallen. Marken wie d&b, Meyer Sound oder Nexo sind häufig bei Festivals zu finden, während DIY-PA in Off-Räumen eigene Charakteristika bringt.
  • Signalverarbeitung: Kompression, Limiting, Distortion – sind sie beabsichtigt oder ein Eingriff zur Schadensbegrenzung?
  • Digitale Artefakte: Aliasing, Sample-Rate-Mismatch oder glitchende Latenzen können ästhetisch eingesetzt werden, sind aber auch technische Mängel.
  • Ein Tipp: Wenn möglich, mit dem Technikteam kurz sprechen. Viele Sound-Engineers erklären bereitwillig, ob ein Effekt beabsichtigt ist (z. B. granulare Synthese, Max/MSP-Patches, modular setups) oder ob es sich um ein Problem handelt.

    Wie ich intentionale Entscheidungen erkenne

    Intentionalität zeigt sich oft in Mustern: Wenn ein Klangereignis wiederholt, kontrolliert und in Beziehung zu anderen Elementen steht, ist es wahrscheinlich künstlerisch gemeint. Zufälligkeiten hingegen zeichnen sich durch inkonsistente Wiederholungen oder abruptes Abbrechen ohne konzeptionelle Erklärung aus. Künstler wie Pauline Oliveros (Deep Listening) oder Ryoji Ikeda arbeiten bewusst mit Raum, Mikrostrukturen und physikalischen Grenzen des Klangs; bei solchen Positionen ist eine „Störung“ meist Konzept.

    Formulierungen, die konstruktiv sind

    Wenn ich eine Kritik schreibe, vermeide ich pauschale Urteile und liefere stattdessen beschreibende, prüfbare Aussagen. Beispiele für hilfreiche Formulierungen:

  • „Der Einsatz von digitaler Verzerrung führte in diesem Abschnitt dazu, dass Obertöne die Sprachverständlichkeit überdeckten; das wirkte an manchen Stellen überfordernd.“
  • „Die räumliche Bewegung des Klangs war ein starkes Element, allerdings fehlte mir an zwei Stellen die Abstimmung mit den Lichtwechseln – die Synchronität hätte die Wirkung verstärkt.“
  • „Technisch interessant: Die Verwendung von Ambisonics-Geräten erzeugte eine beeindruckende Rotation des Feldes, die aber in der vorderen Raummitte nur wenig differenziert wahrnehmbar war.“
  • Solche Sätze benennen klar das Problem, setzen es zum künstlerischen Ziel in Beziehung und schlagen – wenn sinnvoll – Verbesserungen vor.

    Fragen, die ich Künstlerinnen und Technikteams stelle

    Vor oder nach dem Konzert helfe ich mir mit ein paar gezielten Fragen, um besser zu verstehen, was beabsichtigt war:

  • Was war die konzeptionelle Idee hinter der Klanggestaltung?
  • Welche Rolle spielt die Raumakustik? Wurde der Raum eigens für das Stück angepasst?
  • Welche Hardware/Software wurde eingesetzt (z. B. Ableton Live, Max/MSP, modular synthesizer, Ambisonics-Encoder)?
  • Gab es technische Restriktionen, die Entscheidungen beeinflussten?
  • Wie seht ihr die Balance zwischen Improvisation und Vorkonzeption?
  • Antworten auf diese Fragen helfen, ästhetische von technischen Problemen zu unterscheiden und machen die Rezension fairer.

    Eine kleine Vergleichstabelle zur Einordnung

    Aspekt Ästhetisch beabsichtigt Technisches Problem
    Übersteuerung gezielt als Distortion/Grain Unbeabsichtigtes Clipping durch zu hohen Pegel
    Räumlichkeit Ambisonics/mehrkanalig geplant schlechtes Timing zwischen Lautsprechern
    Rauschen/Glitches Teil der Textur (glitch aesthetic) Hardware-Fehler, Kabelproblem

    Zum Schluss: Schreiben, was wirklich gehört wurde

    Meine wichtigste Regel ist simpel: Beschreibe genau, was du gehört hast, ordne es ein und frage nach der Intention, bevor du urteilst. Nenne technische Details, wenn sie relevant sind, und bleibe respektvoll gegenüber künstlerischer Risikobereitschaft. Gerade im experimentellen Bereich ist Mut zur Dekonstruktion wichtig — sowohl auf der Bühne als auch in der Kritik. Wenn ein Stück scheitert, kann das genauso aufschlussreich sein wie ein Erfolg, vorausgesetzt, die Kritik macht die Mechanismen dieses Scheiterns sichtbar und bietet Raum für Diskussion.