Theaterkritik ist für mich ein Balanceakt: ehrlich und präzise, aber niemals verletzend aus bloßer Geschmackssache heraus. Gerade als angehende Autorin spürt man den Druck — man will pointiert sein, sichtbar werden, Fingerspitzengefühl zeigen und trotzdem eine klare Haltung einnehmen. In diesem Text teile ich meine praktische Checkliste und meine Gedanken dazu, wie man eine faire, aber pointierte Theaterkritik schreibt.
Warum Fairness und Pointiertheit kein Widerspruch sind
Fairness bedeutet nicht, alles zu loben oder neutral zu bleiben. Sie bedeutet, die Intentionen der Produktion zu verstehen, das Handwerk zu würdigen und Kritik an konkreten Elementen zu üben — nicht an Personen. Pointiert sein heißt, eine Lesbarkeit, eine Richtung und ein Urteil zu haben, das sitzt. Ich versuche immer, beides zu vereinen: fundierte Beobachtung + eine klare Haltung.
Vor dem Besuch: Recherche als Grundlage
Eine gute Kritik beginnt lange vor dem Vorhang. Ich recherchiere das Stück, das Team, die Produktionsbedingungen und frühere Inszenierungen. Folgende Punkte notiere ich mir vorab:
- Wer hat das Stück geschrieben, übersetzt oder adaptiert? Welche Version liegt vor?
- Wer sind Regie, Bühnenbild, Licht, Musik, Dramaturgie — und welche Signale senden frühere Arbeiten dieser Personen?
- Was sagt das Haus zum Konzept? Gibt es ein Programmheft oder Presseunterlagen?
- Gibt es einen kulturellen oder politischen Kontext (Förderbedingungen, Jubiläum, Koproduktion), der die Aufführung beeinflusst?
Im Saal: Beobachten, nicht nur konsumieren
Während der Vorstellung bin ich so wenig wie möglich abgelenkt. Ich habe ein kleines Notizheft dabei oder nutze das Smartphone für Stichworte — niemals laute Tippen. Wichtige Beobachtungspunkte:
- Wie erzählt die Inszenierung? Linear, assoziativ, fragmentiert?
- Welches Tempo hat die Aufführung? Wann entsteht Spannung, wann fällt sie ab?
- Wie ist die Arbeit von Schauspielerinnen und Schauspielern: Körper, Stimme, Textverständlichkeit?
- Wie funktionieren Raum, Licht und Sound in Relation zur Handlung?
- Welche Momente bleiben hängen — positiv wie negativ? Ich notiere konkrete Szenen, keine vagen Eindrücke.
Stimmen einholen: Gespräche nach der Premiere
Wenn möglich, spreche ich nach der Aufführung kurz mit einigen Beteiligten: mit einer Schauspielerin, der Regie oder der Dramaturgie. Ich frage nach Intentionen, Produktionsbedingungen und Entscheidungen, die mir unklar waren. Solche Gespräche helfen, Missverständnisse zu vermeiden und eröffnen oft interessante Perspektiven, die ich in die Kritik einflechte — immer transparent gekennzeichnet.
Eine faire Struktur für die Kritik
Ich schreibe meine Kritiken nach einer klaren Struktur, die Lesende führt:
- Lead: Ein starker erster Absatz, der das Urteil vorstellt — pointiert, aber begründet.
- Handlungs- oder Konzeptzusammenfassung: Kurz, ohne zu spoilern, damit Leserinnen verstehen, worum es geht.
- Analyse: Detaillierte Beobachtungen zu Regie, Schauspiel, Bühne, Sprache, Musik.
- Kontext: Politische, künstlerische oder historische Bezüge; Produktionsbedingungen.
- Urteil: Konkrete Einschätzung mit Empfehlungen (für wen ist die Aufführung geeignet?).
Sprache und Ton: Punktgenau statt verletzend
Ton ist entscheidend. Pointiert zu sein bedeutet nicht, verletzend zu formulieren. Ich vermeide persönliche Attacken und nutze stattdessen:
- Konkrete Beschreibungen statt Verallgemeinerungen ("die Stimme war oft schwer verständlich" statt "schlecht gesungen").
- Vergleiche mit Vorsicht — sie sollten erhellen, nicht demütigen.
- Metaphern sparsam und präzise.
- Wenn ich harte Kritik übe, erkläre ich, warum das ein Problem ist — für die Wirkung, die Zugänglichkeit, die Dramaturgie.
Ethik und Transparenz
Als Kritikerin habe ich Verantwortung. Ich gebe an, ob ich bezahlt wurde, eingeladen wurde oder eine persönliche Beziehung zu Beteiligten habe. Transparenz schafft Vertrauen. Bei Produktionen mit prekären Bedingungen (z. B. geringe Gagen, schwierige Probenzeit) erwähne ich diese Faktoren, weil sie die künstlerische Leistung beeinflussen können.
Häufige Fehler, die ich sehe
- Zu starke Zusammenfassung statt Analyse: Leser wollen wissen, warum etwas funktioniert oder nicht.
- Meinung ohne Basis: Pointiert, aber nicht belegt. Immer Szenen oder Momente nennen.
- Übermäßige Fachsprache, die Laien ausschließt — Sprache sollte einladen.
- Persönliche Animositäten einfließen lassen: Wenn persönliche Erfahrungen relevant sind, muss das transparent gemacht werden.
Praktische Checkliste: Vor dem Schreiben
| Notizen vollständig? | Hast du Szenen, Zitate, Minutenmarken notiert? |
| Kontext geprüft? | Hast du Presseinfo, Biografien, frühere Inszenierungen recherchiert? |
| Interviews geführt? | Gibt es Stimmen aus dem Ensemble oder Team, die du einbeziehen kannst? |
| Transparenz klargemacht? | Hast du mögliche Interessenskonflikte offengelegt? |
Wie man ein pointiertes Urteil formuliert
Ein pointiertes Urteil braucht Mut zur Positionierung und die Bereitschaft, Verantwortung für Worte zu übernehmen. Ich formuliere oft so:
- "Diese Inszenierung scheitert daran, dass..." gefolgt von konkreten Beispielen.
- "Die größte Stärke liegt in..." — benenne positive Elemente, nicht nur Mängel.
- "Für ein Publikum, das X erwartet, ist die Aufführung geeignet; für Y eher nicht." — das hilft Leserinnen, ihre Entscheidung zu treffen.
Beispiele aus der Praxis
Neulich sah ich eine Produktion, in der das Bühnenbild exzellent war, die Figurenzeichnung jedoch blass blieb. In der Kritik habe ich nicht nur "schlechte Figuren" geschrieben, sondern erklärt, wie das Bühnenbild Emotionen suggerierte, während die Regie kaum Raum für Subtext ließ — und ich nannte zwei Szenen, in denen das besonders sichtbar wurde. Das macht Kritik nachvollziehbar.
Tipps für junge Autorinnen
- Lesen, lesen, lesen: Studiere Kritiken renommierter Kulturredaktionen, aber entwickle eine eigene Stimme.
- Schreibe regelmäßig — Kurzbesprechungen, Rezensionen, Blog-Posts.
- Suche Feedback von Kolleginnen und Kollegen, aber filtere es bewusst.
- Besuche verschiedene Häuser und Formate — Stadt- wie Freie Szene, um vergleichende Urteile zu ermöglichen.
- Bleibe neugierig: Hinter jeder schlechten Aufführung steckt eine Geschichte, die erzählt werden will.
Wenn du meine Checkliste nutzt: Sei geduldig mit dir selbst. Kritik schreiben ist ein Handwerk, das wächst. Und: Scheue dich nicht, pointiert Stellung zu beziehen — solange du deine Worte mit konkreten Beobachtungen und Respekt füllst.